Vor 30 Jahren war in Ostdeutschland jeder fünfte Erwerbsfähige arbeitslos und in Thüringen lag die Arbeitslosenquote 2013 noch bei über 10 %. Heute sind wir bei knapp unter 5%. Eine arbeitsmarktpolitische Erfolgsgeschichte?
Es ist ein Zeichen für eine starke Veränderung. Ob das jetzt eine Erfolgsgeschichte ist? Also vielleicht schon in dem Sinne, dass die allermeisten bei uns in Arbeit sind. Aber sie sind es auch zu schwierigen Bedingungen. Menschen in Thüringen erhalten immer noch 25% weniger als in den westdeutschen Bundesländern. Ansonsten hat diese Veränderung, die wir gerade erleben, mit sehr vielen Faktoren zu tun. Einer ist, dass Ende der 90er, Anfang der 2000er Jahre sehr, sehr viele Menschen weggegangen sind, weil sie keine Chance hatten auf dem Arbeitsmarkt. Die fehlen uns jetzt.
Wenn die Bevölkerungszahl stagniert oder rückläufig ist, warum nimmt der Fachkräftebedarf zu? Man könnte doch auch sagen: Je weniger Menschen in Thüringen leben, desto weniger Arbeit fällt auch an, oder nicht?
Selbst wenn nicht mehr Arbeit anfiele, hätten wir in den nächsten Jahren massiven Bedarf. Einfach weil der Altersdurchschnitt so hoch ist und bis 2030 über 300.000 Menschen in Rente gehen. Das klingt immer nicht viel. Wenn man die knapp 2,2 Millionen, die wir noch als Bevölkerung haben dagegensetzt und dann weiß, wir haben ungefähr 800.000 Beschäftigte, ist es schon eine andere Dimension. Allein in der Pflege wird der Bedarf also deutlich größer sein.
Obwohl wir unter anderem in der Pflege dringend Fachkräfte brauchen, fordert die SPD Thüringen dort eine Reduktion der Wochenarbeitszeit auf 30 Stunden. Müsste man nicht eigentlich die Arbeitszeit erhöhen?
Nein, weil wir die Arbeitsbedingungen attraktiver machen müssen. Wir hatten sehr lange mit einer Generation zu tun, die in den Neunzigern mit sehr massiven Unsicherheiten konfrontiert war und die dadurch bereit war, sehr viel in Kauf zu nehmen, also niedrige Löhne, hohe Arbeitszeiten, wenig Urlaub, und so weiter. Es ist gut, dass sich das ändert. Man kann Menschen nicht über 30, 35 oder 40 Jahre im Berufsleben so auf Verschleiß fahren. Wer mal einen Tag in einem Pflegeheim war, weiß, dass das ein enorm belastender Beruf ist.
Wie siehst du das mit Blick auf alle Branchen, sollten wir die Wochenarbeitszeit anheben oder senken?
Weder noch, ehrlich gesagt. Wir brauchen insgesamt eine auf Lebensphasen orientierte Arbeitszeit. Also Menschen, die kleine Kinder haben oder ältere Angehörige pflegen oder auch einfach älter sind, müssen die Möglichkeit haben, weniger zu arbeiten, einfach um die Anforderungen, die sie im privaten Bereich haben, erfüllen zu können und auch gut erfüllen zu können.
Und umgekehrt?
Natürlich gibt es auch Phasen im Leben, in denen man sagt: Ich bin auch bereit, mehr als 30 Stunden zu arbeiten, vielleicht sogar mehr als 40. Nicht, dass ich jetzt dafür werben will, dass alle dann 45 Stunden arbeiten sollen. Darum geht es nicht. Aber es gibt Phasen im Leben, wo man sagt: Okay, 40 Stunden in der Woche schaffe ich gut.
Also müsste man die Arbeitszeiten flexibilisieren?
Zumindest über Lebensphasen hinweg muss man sie flexibilisieren. Wir diskutieren auf Bundesebene gerade wieder über Familienarbeitszeit, bei der in bestimmten Phasen auch Lohn kompensiert wird. Also so ähnlich, wie wir das beim Elterngeld machen. Das birgt natürlich die Gefahr, dass es von Frauen stärker in Anspruch genommen wird als von Männern. Das hat ganz pragmatisch oft eine finanzielle Komponente. Persönlich wünsche ich mir, dass man sagt, man macht das, aber diese Kompensation kriege ich nur, wenn beide Elternteile gleichermaßen reduzieren.
Das heißt, wie freiwillig ist am Ende die Entscheidung, weniger oder mehr zu arbeiten?
Wenn man sich das leisten kann, ist das eine freiwillige Entscheidung. Wenn es keine Lohneinbußen – oder keine so deutliche Lohneinbuße – bedeuten würde, würden viel mehr sagen: Wir verzichten, wir reduzieren unsere Arbeitszeit.
In der aktuellen Situation sind Fachkräfte was das betrifft doch eigentlich in einer sehr guten Verhandlungsposition. Macht das Gewerkschaften überflüssig?
Nein, weil der Anspruch der Gewerkschaften ein anderer ist. Also klar, die Verhandlungsposition für Einzelpersonen hat sich massiv verbessert. Aber das, was wir wollen, ist, dass alle mehr davon haben und ein solches Durchsetzen von Interessen funktioniert besser, wenn man das gemeinschaftlich macht. Das geht nur, wenn Menschen solidarisch miteinander sind und sagen, wir kämpfen gemeinsam dafür, dass es uns allen bessergeht.