Ein Debattenbeitrag von Dr. Thomas Hartung
In der vierten Welle der Corona-Pandemie drohen erneut Familien und vor allem Familien mit jungen Kindern bei den Schutzmaßnahmen unter den Tisch zu fallen. Zwar gibt es mittlerweile ein Testregime für Schulen, die Kindergärten blieben aber noch immer außen vor. Als Bildungspolitiker und Arzt ärgert mich das gleich doppelt. Denn neben Schwächen im Umgang mit der Pandemie zeigt es leider auch, dass die Bedeutung frühkindlicher Bildung noch immer unterschätzt wird.
Dabei prägen nachweislich bereits die Erfahrungen im Vorschulalter den späteren Lebensweg. Je früher und besser Kinder ihre eigenen Talente entdecken können, desto besser gelingt es ihnen später auch, ihren eigenen Platz im Leben zu finden. Wenn wir allen Kindern unabhängig von ihrer Herkunft bestmöglich darin unterstützen wollen, sich im Laufe ihres Lebens zu verwirklichen – und als Sozialdemokrat will ich das –, dann gehört eine qualitativ hochwertige und für alle finanzierbare frühkindliche Bildung einfach dazu.
Natürlich lässt sich dieses Ideal nicht von heute auf morgen umsetzen. Dafür braucht es einen langen Atem und natürlich auch Gelegenheiten, mitzugestalten. Deshalb war es gut, dass wir 2009 Regierungsverantwortung übernehmen konnten. Mit Hilfe des SPD-geführten Bildungsministeriums haben wir es geschafft, die Betreuungsrelation schrittweise zu verbessern, und mittlerweile zwei beitragsfreie Kiga-Besuchsjahre ermöglicht.
Jetzt kommt es darauf an, den Weg der Qualitätsverbesserung fortzusetzen. Wir haben uns vorgenommen, den „Thüringer Bildungsplan bis 18 Jahre“ konsequent umzusetzen und die Kitas bei aktuellen Herausforderungen zu unterstützen. Dazu gehört der Umgang mit zunehmender Heterogenität, mit den Erfordernissen inklusiver Bildung und der immer wichtiger werdenden Zusammenarbeit mit Eltern und Kooperationspartner:innen im Sozialraum.
Dazu gehört auch, die Situation der Beschäftigten mit in den Blick zu nehmen. Denn zum einen sind gute Arbeitsbedingungen selbstverständliches Anliege der Sozialdemokratie und schließt daher auch all jene mit ein, die nicht erst in Zeiten der Pandemie einen entscheidenden Betrag für unsere Gesellschaft leisten.
Zum anderen steht ein umfassender Generationenwechsel an. Ein großer Teil der Erzieher:innen wird bis 2030 in den Ruhestand gehen, während der Bedarf an Kita-Plätzen weiter hoch bleibt. Wenn wir in Sachen Qualität nicht zurückfallen wollen, müssen wir den zunehmenden Fachkräftebedarf decken. Und das gelingt nur, wenn wir die Attraktivität des Erzieher:innenberufs in Thüringen deutlich steigern, indem wir beispielsweise das erfolgreiche Modellvorhaben der Praxisintegrierten Ausbildung in die Fläche bringen und zu einer regulären Säule der Erzieher:innenausbildung ausbauen.
Zudem brauchen wir eine weitere Verbesserung des Betreuungsschlüssels in den Kitas. Wir schaffen damit Raum für eine qualitative Weiterentwicklung an den Einrichtungen, entlasten das Personal und begeistern mehr Menschen für die Arbeit im Bereich der frühkindlichen Bildung.
Studien empfehlen zusammen mit Fachexpert:innen und -verbänden einen Mindestpersonalschlüssel von 1:3 für Kinder unter 3 Jahren (U3) und 1:7,5 für Kinder von 3 Jahren (Ü3) bis zum Schuleintritt. In Thüringen sind wir davon noch weit entfernt, zumal Minderungszeiten noch nicht angemessen bei der Berechnung des Personalbedarfs berücksichtigt werden. Das gilt zum Beispiel für Vor- und Nachbereitungen, Fortbildungen und Elterngespräche, aber auch Urlaubs- und Krankheitszeiten.
Der Abstand der Expert:innenempfehlungen zum Status Quo ist so groß, dass wir ihn nicht von heute auf morgen überwinden können. Aktuell kümmert sich im Bereich Ü3 ein:e Erzieher:in um durchschnittlich 15 Kinder – also doppelt so viele, wie den Studien zu Folge gut und sinnvoll wäre. Ein wichtiger nächster Schritt ist es deshalb, den Ü3-Mindestbetreuungsschlüssel in Thüringen zunächst auf 1:13 (ab August 2022) und dann auf 1:12 (ab August 2023) zu vereinheitlichen. Ab August 2024 soll zudem auch im Bereich der Unter-Drei-Jährigen auf 1:6 verbessert werden. Auch das ist immer noch doppelt so hoch wie Studien empfehlen.
Allein diese Zahlen verdeutlichen die Herausforderung, vor der die Kommunen, die Träger:innen der Einrichtungen frühkindlicher Bildung und schließlich auch das Land Thüringen stehen. Schätzungsweise wird die vollständige Umsetzung der Expert:innenempfehlungen 10 Jahre dauern.
Dabei ist mir durchaus bewusst, dass ein gewisser Optimismus dazu gehört, wenn man im Politikbetrieb über mehr als eine Legislaturperiode hinaus plant. Man kann sich nicht auf Mehrheitsverhältnisse und parteipolitische Konjunkturen verlassen. Trotzdem bin ich zuversichtlich, dass es uns gelingen kann.
Denn erstens bin ich überzeugt, dass wir einen Konsens mit den demokratischen Fraktionen erreichen und gemeinsam als Land die Herausforderungen im Bereich der frühkindlichen Bildung annehmen können. Und zweitens zeigt der Rückblick auf die vergangenen 12 Jahre sozialdemokratischer Bildungspolitik, was möglich ist. Wir sind auf dem richtigen Weg.
Siehe auch: SPD-Fraktion legt zum Weltkindertag Konzept für eine bessere frühkindliche Bildung in Thüringen vor