How to MP-Wahl – oder wie man die Demokratie mit Füßen tritt!

How to MP-Wahl – oder wie man die Demokratie mit Füßen tritt!

2 Mrz 2020

Was kann schon schief gehen? Die Rechten werden doch niemals einen Kandidaten der sogenannten Altparteien wählen. Das wäre an Unglaubwürdigkeit nicht zu überbieten. Nein! Bodo Ramelow wird sich durchsetzen und zusammen mit uns gute Politik für Thüringen betreiben. Erste Sonnenstrahlen scheinen mir ins Gesicht. Ich öffne meine Augen und verdränge vergangene Gedanken aus meinem Kopf. Mein Puls steigt. Höher als sonst – anormal hoch. Es ist Mittwoch, ich bin ersichtlich aufgeregt. Als Freiwilliger bekommt man nicht oft die Möglichkeit, an bewegenden politischen Ereignissen teilzuhaben.

Heute ist der 5. Februar, die Wahl des Linken Bodo Ramelows zur zweiten Amtszeit des Thüringer Ministerpräsidenten steht auf der Tagesordnung der Sonderplenarsitzung. Die ganze Bundesrepublik schaut auf Thüringen. Das einzige Bundesland, wo so etwas überhaupt möglich ist: Die Linke kletterte hier zur Landtagswahl auf 31 Prozent, in anderen Ländern kratzt sie oftmals, wenn überhaupt, an der Zweistelligkeit. Doch heute wird es passieren. Das ist auch gut so. Ramelow hat jedoch keine Mehrheit und pocht auf den dritten Wahlgang. Ein gewagtes Unterfangen, womöglich sogar gefährlich! Mit einem mulmigen Gefühl und einem kurzen Blick in die Zeitung fahre ich in Richtung Landtag.

Im Hohen Hause herrscht Ruhe und Gelassenheit, alles beim Alten. Die Tagesordnung der Fraktionssitzung der SPD ist so kurz wie selten. Die letzten Wochen waren nicht einfach – weder für die Abgeordneten noch für Mitarbeiter*innen. In stundenlangen Sitzungen verhandelte die SPD mit Linken und Grünen eine Art Koalitionsvertrag, „Vereinbarung“ oder wie auch immer, um sich für einzelne Vorhaben mit den Stimmen der Freien Demokrat*innen (FDP) sowie Christdemokrat*innen (CDU) eine Mehrheit zu verschaffen. Denn obwohl die Linken nach der Landtagswahl im Oktober als klare Sieger dastanden, sieht es bei Sozialdemokraten und Grünen nicht so gut aus. So fehlen der von so vielen gewünschten Landesregierung vier Stimmen. Sollte Ramelow also tatsächlich die Ministerpräsidentenwahl gewinnen, hieße dies, Thüringen mache den Weg frei für eine handlungsfähige und gewollte Minderheitsregierung. Ein starkes Zeichen?

In Gedanken an mögliche Auswirkungen der Geschehnisse steigt meine Nervosität. Heute geht es um alles: unsere Demokratie. Punkt 11 Uhr eröffnet Birgit Keller, Präsidentin des Thüringer Landtags, die 7. Plenarsitzung der im November angebrochenen Legislaturperiode. Nach einem ersten und zweiten Wahlgang strömen die Abgeordneten in Richtung Fraktionsräume. Zur Wahl stand neben Ramelow noch der parteilose Dorfbürgermeister Christoph Kindervater, aufgestellt von der Fraktion der AfD als sogenannter Alternativkandidat zum rot-rot-grünen Wahlvorschlag. Nur: Keiner der beiden konnte eine Mehrheit auf sich vereinen. Und nun? Der dritte Wahlgang ist entscheidend. Hat Ramelow wirklich noch eine Chance?

Wenig überraschend lässt sich im dritten Wahlgang eine dritte Person mit auf den Wahlzettel setzen: der FDP-Landesvorsitzende Thomas Kemmerich. Bereits im Vorfeld hatte er angekündigt, für den Fall der Kandidatur eines AfD-Bewerbers im 3. Wahlgang ebenfalls anzutreten. Und letztendlich, mit der Begründung, durch seine Person die Mitte zu vertreten und eine ehrliche Alternative zu „links und rechts“ zu schaffen, steigt der ehemalige Bundestagsabgeordnete in den Ring. Ein Vabanquespiel sondergleichen – oder sollte man sagen verantwortungslos? Ein Ministerpräsidentenkandidat einer 5 % Partei? Spielt er mit dem Wählerwille? Vor dem Plenarsaal herrscht Stille, ab und zu hört man Reporter verzweifelt mit ihrer Redaktion telefonieren. Die Stimmung ist angespannt. Nach und nach zählen die Wahlhelfer*innen die 90 Stimmen aus, eh sie nach leichtem Kopfschütteln wieder ihren Platz in den Fraktionsreihen einnehmen. Mit einer angespannten Mimik bekommt die Sitzungsleitung den Zettel mit dem Wahlergebnis zur Hand und fängt an das Ergebnis zu verlesen: „Sehr geehrte Damen und Herren. Ich gebe die Anzahl der abgegebenen Stimmen bekannt. […] Auf den Wahlvorschlag der Fraktion Die Linke, der SPD, Bündnis90 Die Grünen, […] für Abgeordneten Bodo Ramelow stimmten 44 Stimmen. Wahlvorschlag der Fraktion der AfD […], Herr Christoph Kindervater: 0 Stimmen. Wahlvorschlag der Fraktion der FDP […], Abgeordneter Thomas Kemmerich: 45 Ja-Stimmen. Ich frage Herrn Abgeordneten Kemmerich: Nehmen Sie die Wahl zum Ministerpräsidenten an?“ so Keller.

Hinter der dicken Scheibe brechen die Mitarbeiter*innen von AfD und Teile der CDU in Freudenschreien aus und umarmen sich herzlich. Alle anderen dagegen versetzte das Ergebnis in eine Art Schockstarre. Mit einem einzigen Gefühlsgewitter renne ich vor dem Plenarsaal hin und her. Der Mann, der noch im Wahlkampf seine Großaufsteller mit den Worten „Endlich eine Glatze, die in Geschichte aufgepasst hat“ bedrucken lies, nimmt doch tatsächlich eine Wahl an, die ohne Stimmen Rechtsradikaler niemals so zu Stande gekommen wäre: und ist jetzt Ministerpräsident. War er tatsächlich so blauäugig wie er tat, oder das Ganze schon lange so geplant? Außer Spekulationen: nichts! Und seine gesamte Fraktion lässt er kreidebleich zurück. Sofort streut auf allen Kanälen die Eilmeldung Kemmerichs Wahl. Der zweite FDP-Ministerpräsident der deutschen Geschichte. Gerade so in den Landtag gerutscht, mit knapp 70 Stimmen über der 5-Prozent Hürde, stellt diese Fraktion nun den Thüringer Regierungschef. Und das nur durch die Stimmen der Alternative für Deutschland. Die Partei, an deren Spitze in Thüringen der Faschist Björn Höcke steht. Der Aufschrei ist groß, denn eine Kooperation zwischen Demokrat*innen und Antidemokrat*innen hätte niemand für möglich gehalten. Und es steht immer noch im Raum: Verantwortungslosigkeit, fehlendes Demokratieverständnis oder pure Absicht. Was waren Kemmerichs Beweggründe, diese Wahl anzunehmen?

Ich kann es immer noch nicht glauben, die Realität muss doch anders aussehen! Doch wenig später kommt in mir neuer Mut auf. Innerhalb weniger Minuten versammelten sich hunderte Demonstrant*innen vor dem Landtag, um der Wahl des „ersten AfD-Ministerpräsidenten“, wie einige Zeitungen titelten, entgegenzutreten. Mit einem gemeinsamen Demozug in Richtung Staatskanzlei, Sprechchören von „nicht mein Ministerpräsident“ bis „Bodo ans Fenster“ machte die Zivilbevölkerung deutlich, dass sie eines nicht möchten: Nazis in einer Regierung. Denn anscheinend hat Kemmerich doch nicht im Geschichtsunterricht aufgepasst. Doch nicht nur Erfurt, das gesamte Bundesgebiet ist auf der Straße: gegen Faschismus in unserer Gesellschaft! Danke dafür!

Die darauffolgenden Tage sind geprägt von Ungewissheit und Geschwurbel. Die Bundesvorsitzenden von CDU und FDP, Kramp-Karrenbauer und Lindner, reisten nach Erfurt, um mit den betreffenden Personen zu sprechen und sich ein Bild zu machen. Erst kündigte Kemmerich an, nicht zurücktreten zu wollen, einen Tag später dann doch, und Neuwahlen fände er ganz gut. Lächerlich! Nach Gesprächen mit der Landtagspräsidentin zog er seine Rücktrittsankündigung wiederum zurück, um noch einzelne offene juristische Fragen zu klären. Eine richtige Entscheidung? Er hatte direkt nach seiner Wahl noch nicht einmal Minister*innen ernannt. Ohne die rot-rot-grünen Staatssekretäre, wäre Thüringen handlungsunfähig. Kurz nach dem der Koalitionsausschuss im Bund sich auf einen sofortigen Rücktritt einigte, vollzog der Thüringische Ministerpräsident allerdings doch genau diesen Vorgang durch einen Tweet.

Dies schien nicht der letzte Rücktritt der nächsten Stunden und Tage zu sein. Neben dem Ostbeauftragten der Bundesregierung Hirte, kündigen AKK sowie Mike Mohring nach und nach ihren Rückzug von der jeweiligen Parteispitze an, auch Lindner stellte im FDP-Bundesvorstand die Vertrauensfrage, die er allerdings gewann. Die einzige Partei, die ihre Position von Anfang an klar formulierte, war die SPD. Keine Rücktritte, keine inhaltslosen Frasen. Gleich am Abend des 5. Februars beschloss der Parteivorstand, sich für eine schnelle Neuwahl stark zu machen.

Der Schachzug Kemmerichs stürzte die Politik des ganzen Landes ins Chaos. Und nun? Neuwahlen? Zwischendurch brachte Ramelow auch die frühere Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht ins Spiel, um eine technische Regierung bis zur geplanten Neuwahl zu führen. Für die CDU ein abwegiges Vorhaben. Sie waren gefangen in ihrem tiefen Loch, aus dem sie versuchten hinauszuklettern. Einen perfekten Ausweg konnte es nicht geben. Schlecht oder schlechter, das ist hier die Frage. Die Wahl zwischen Pest und Cholera.

Mit viel Vernunft einigte sich SPD, Linke, Grüne und CDU auf gemeinsame Gespräche, um der Regierungskrise endgültig ein Ende zu bereiten. Das Ergebnis? Neuwahlen im April 2021 und am 4. März 2020 einen zweiten Anlauf der MP-Wahl mit dem Ministerpräsidenten Bodo Ramelow. Ein nicht zufriedenstellendes, aber dennoch notwendiges Ergebnis.

Der 5. Februar 2020 ist der Tag des Tabubruchs, ein Tag an dem Faschist*innen mit einem undemokratischen Manöver versuchten, Grundwerte der Demokratie zu zerstören. Ein Datum, das die Menschen aufrüttelte, auf die Straße brachte und eine Großdemonstration von fast 20.000 Menschen in Erfurt auslöste. Ein Tag, der in die Geschichtsbücher eingehen wird und der uns immer daran erinnern muss, für unsere Demokratie zu kämpfen.

Heute, knapp 3 Wochen nach dem Dammbruch nach rechts sitze ich in der Landespressekonferenz, Höcke und Mohring schwurbeln um den heißen Brei, ohne konkret auf die Fragen der Journalist*innen einzugehen. Und Kemmerich, der immer noch das Amt des Fraktionsvorsitzenden aufweist, hatte angekündigt, einen geeigneten Ersatz zu entsenden. Doch ein Vertreter der einzigen Koalitionsfraktion, der Regierung, die Fraktion, die eine der schwersten Regierungskrisen Deutschlands erst ausgelöst hatte und das gesamte Bundesgebiet in Aufruhr versetzte, blieb der Presse fern. Der Stuhl blieb frei und hinterlässt das Bild einer unsichtbaren Regierung und einer liberalen Fraktion im freien Fall.

Franz Ellenberger

Franz Ellenberger

FSJ-Politik